Die Meister-Schüler-Beziehung

Es gibt nichts, woran
man besser erkennen kann,
ob man ganze Liebe habe,
als Vertrauen!
Meister Eckhart (1260-1327)

Fragt man Aikidoka nach dem Sinn der Meister-Schüler-Beziehung, so antworten sie oft mit Feststellungen zum „Pflichtenkatalog des Meisters“ (Wer ist wessen Diener?) sowie zu den „kausalen Abhängigkeiten“ (Begleitet der Meister den Schüler oder folgt der Schüler dem Meister?). Dadurch werden Vorstellungen an einen zeitlich befristeten Ausbildungsvertrag mit klar abgegrenzten Aufgaben- und Verantwortungsbereichen geweckt.

Zur Vermeidung dieser oder anderer Missverständnisse möchte ich meine Auffassung vom Wesen des Aikido und der sich daraus manchmal entwickelnden Meister-Schüler-Beziehung darlegen:

Basis jeder echten Meister-Schüler-Beziehung ist die (Nächsten-)Liebe. Sie offenbart sich durch ein ständiges, wechselseitiges und sich überlagerndes Geben und Empfangen. Die Pole „Meister“ und „Schüler“ verschmelzen so auf einer höheren Ebene zur harmonischen und wertschaffenden Einheit.

Die (Nächsten-)Liebe befähigt den Menschen zur Hingabe, das heißt, zur Einschränkung bzw. Unterordnung des „Ich“. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die kritische Selbstreflexion, die eine förderliche innere Wandlung erst initiiert und ermöglicht. Vereinigen sich die „Pole“ auch im Bewusstsein, wird die Harmonie als zeit- und raumunabhängiges Glücksgefühl erfahren, das meditative Wirkungen hat und neue Dimensionen des Seins sowie der inneren und äußeren Freiheit eröffnet.

Die Techniken des Aikido sind unter anderem körperliche (materialisierte) Übungs-Formen zur Verinnerlichung dieser Prinzipien bzw. Ausdruck des wesentlichen Ziels, das – auch in anderen Zusammenhängen – vereinfacht als „Aufhebung der Gegensätze“ oder „Ergänzung des Partners“ beschrieben wird.

Eine Meister-Schüler-Beziehung kann niemals entstehen, wenn sich ein „Pol“ überhaupt nicht oder nur unter Vorbehalten einbringen will, weil er meint, dass dies zur Selbstaufgabe oder zur Einschränkung seiner (Entscheidungs-)Freiheit führt.

Die Betroffenen haben dann jedoch eine wesentliche Chance des „harmonischen Weges“ vergeben und ihre weiteren gemeinsamen Aktivitäten reduzieren sich zwangsläufig auf den körperlichen Vollzug von Techniken der Selbstverteidigung.

Die dann natürlich noch mögliche Zweckbindung beschränkt sich meist auf die Verfolgung persönlicher Interessen bzw. solcher Ziele, die für alle Beteiligten von materiellem Vorteil sind.

Begibt man sich bewusst oder unbewusst auf diese Ebene, lassen sich die damit einhergehenden Zweifel und Konflikte auch nicht durch eine vertragliche Abgrenzung der Interessen, Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche des Meisters oder Schülers ausräumen.

Auch Meister und Schüler, die nach längerem Studium des Aikido plötzlich ihr „Ich“ wieder entdecken und übersteigern, können die bis dahin vielleicht freudvoll praktizierte Einheit plötzlich als unerträglichen Zwang empfinden. Meist verlassen sie dann den gemeinsamen Weg und signalisieren ihren aufmerksamen Weggefährten die „neue Freiheit“ unbewusst durch äußerliche Symbole der Aus- bzw. Abgrenzung (Verhalten, Kleidung, Formen) oder bewusst durch die negative Beurteilung der bisher anerkannten Umstände (Personen, Organisationen, Ordnungen, Techniken).

Sehr bedauerlich wird es allerdings, wenn derartige Entwicklungen dem Aikido oder dem Gemeinwohl schaden bzw. gegen den Willen der Mehrheit der Ausübenden mit kämpferischen oder – wenn sie von mangelnder Selbstsicherheit oder Angst begleitet sind – subversiven Mitteln durchgesetzt werden sollen.

Die Initiatoren verlassen damit nicht nur den „harmonischen Weg“, sondern haben die wertvollen Ziele des Aikido ihren egoistischen Interessen untergeordnet und damit die Meisterschaft – soweit sie überhaupt bestand – verloren.

Eine wertvolle Meister-Schüler-Beziehung darf auch nicht deswegen grad- bzw. zeitabhängig beendet werden, weil der Schüler annimmt, dass er sich fortan aus eigener Kraft entwickeln kann. Trifft der Schüler diese Entscheidung aus eigenem Antrieb bzw. nach rationalen Überlegungen, wird meist „Selbständigkeit“ mit „Selbstgefälligkeit“ verwechselt. Der Entschluss macht deutlich, dass der Betroffene sich selbst zum „Maß der Dinge“ erhoben hat und keine übergeordnete – kontrollierende – Autorität mehr anerkennt bzw. duldet.

Aus den vorstehenden Feststellungen leiten sich natürlich auch für den Meister besondere Verpflichtungen ab, denn die Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit seiner Bemühungen beweist sich erst in Spannungs- und Konfliktsituationen. Sie treten in jeder menschlichen Beziehung auf und können sehr förderlich sein, wenn die dabei freiwerdende geistige Energie nach den Prinzipien des AIKIDO kanalisiert und verstärkt sowie zur Fortentwicklung der Beziehung umgelenkt wird.

Ich bitte alle Meister und Schüler um die aktive Pflege und Vertiefung ihrer Beziehung, damit das Aikido seine prägenden und wertschaffenden Kräfte entfalten kann – zum Wohle vieler Menschen und der von ihnen getragenen Gemeinschaften.

© Rolf Brand, 8. Dan Aikido
Alle Rechte, auch das der Übersetzung, ausdrücklich vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verfassers gestattet.

Die Historie der Aiki-no-Kata

Kata, Grundtechnik und Randori sind die drei tragenden Säulen des Aikido. Während die Grundtechnik Übungen zum Erlernen der Elemente und Prinzipien des Aikido beinhaltet und das Randori eine Methode zur intuitiven Anwendung der Aikido-Technik darstellt, ist die Kata eine Form der Rückbesinnung. Die häufige und exakte Wiederholung festgelegter Übungsformen ermöglicht einen hohen Grad der Automatisierung und Verinnerlichung der Aikido-Elemente und -Prinzipien. Erst durch das dann mögliche, „unbewusste“ Zusammenspiel zwischen Nage und Uke entstehen verzugsfreie, harmonische und im Sinne der Zielsetzung – Abwehr unbewaffneter und bewaffneter Angreifer – auch effektive Bewegungsabläufe.
Auf europäischer Ebene wurde die erste (Stand) und zweite Form (Boden) der „Aiki-no-Kata“ vom japanischen Aikido-Meister Tadashi Abe (1920 – 1984) entwickelt. Er war in der „2. Generation“ ein Innenschüler (Uchi-dechi) von O Sensei Morihei Ueshiba. Als einer der ersten Aikido-Lehrer lebte und unterrichtete Tadashi Abe von 1952 bis 1960 in Frankreich. Sein Schüler André Nocquet, der in den 50er Jahren als Schüler des legendären Judo-Meisters Mikinosuke Kawaishi (1899 – 1969) auch ein ranghoher französischer Judo-Dan war, wurde von ihm ermuntert, nach Japan zu fahren, um Aikido bei O Sensei Morihei Ueshiba zu studieren. Die damaligen Bedenken des Aikido-Begründers, Ausländer zu unterrichten, konnten durch ein von Tadashi Abe verfasstes Empfehlungsschreiben ausgeräumt werden. André Nocquet wurde im Juli 1955 als Uchi-dechi der „3. Generation“ angenommen und verließ Japan im Dezember 1957 als 4. Dan Aikido.

Über die Gründe für die Entwicklung dieser „Aiki-no-Kata“ können nur Vermutungen angestellt werden. Es ist möglich, dass Meister Tadashi Abe durch die von Judo-Meister Mikinosuke Kawaishi entwickelte und sehr erfolgreiche Methode des in fünf Stufen (Gokyu) formalisierten Judo-Unterrichtes angeregt wurde. Bei beiden Meistern stand sicher das Ziel im Vordergrund, die Entwicklung ihrer ungeduldigen europäischen Schüler dadurch zu fördern, dass sie deren Aufmerksamkeit und Eifer von der „Breite“ (Vielzahl von Techniken) in die „Tiefe“ (hoher Grad der Verinnerlichung ausgewählter Elemente und Prinzipien) lenkten.

Im Januar 1963 realisierte Judo-Meister Gerd Wischnewski seinen Wunsch, zum Studium der Budo-Disziplinen nach Japan zu reisen. Er war unter anderem ein Schüler des Aikido-Begründers und kehrte 1965 als 2. Dan Aikido, 2. Dan Judo, 2. Dan Kendo und 1. Dan Karate nach Wiesbaden zurück. Vom Deutschen Judo-Bund e.V. wurde der „Samurai mit den blauen Augen“ im April 1966 als Bundestrainer für die jungen Sektionen Aikido und Kendo verpflichtet. Im Mai 1971 stellte Gerd Wischnewski (3. Dan Aikido) seine Ämter aus gesundheitlichen Gründen zur Verfügung und zog sich ganz vom Budo zurück.

Da die meisten Aikido-Dane der „frühen Jahre“ auch in Deutschland vor oder neben dem Aikido andere Budo-Disziplinen studierten und unterrichteten, waren sie vom Wert der „Kata“ als einer tragenden Säule des Aikido überzeugt. Folgerichtig verankerten sie in den Prüfungsordnungen für Dan-Grade ihrer Verbände frühzeitig auch „Aiki-no-Kata“. Die gute qualitative und quantitative Entwicklung der von diesen „Aikido-Pionieren“ vertretenen und technisch geprägten Lehrsysteme (Ryu) bestätigt unter anderem die Richtigkeit dieser Auffassung.

Bei der im April 1966 erfolgten Gründung der Aikido-Kommission im Deutschen Judo-Bund e.V. (DJB) wurde die von Meister Gerd Wischnewski vorgelegte Prüfungsordnung (6. bis 1. Kyu-Aikido) des Aiki Kai (Hombu-Dojo in Tokyo) in Kraft gesetzt. Im Juni 1967 wurde diese Prüfungsordnung dann unter systematischen und methodisch-didaktischen Aspekten überarbeitet sowie auf den 1. und 2. Dan Aikido erweitert. „Aiki-no-Kata“ war darin jedoch noch nicht enthalten.

Nach Auswertung der im Rahmen der Lehrtätigkeit gesammelten Erfahrungen wurde die Prüfungsordnung für Aikido-Dan-Grade des Deutschen Dan-Kollegiums e.V. (DDK) im Jahre 1969 aktualisiert. Das Programm für den 1. und 2. Dan wurde dabei erstmals um das Fach „Kata“ erweitert. Eine weitergehende Bezeichnung, die Rückschlüsse auf den Inhalt oder die Zielsetzung der Formen erlaubt, gab es jedoch nicht. Offensichtlich handelte es sich zunächst um eine „Zielvorgabe“.

Im Jahr 1970 wurde die vorgenannte Prüfungsordnung auf den 3. und 4. Dan Aikido erweitert. Beim 1. bis 3. Dan Aikido wird ohne nähere Erklärung wieder das Fach „Kata“ genannt. Für den 4. Dan findet sich unter „Kata“ folgende Anforderung: a) „Aikido-Kata nach eigener Gestaltung“ oder b) „Kendo-Kata“. Nach späterer Auffassung war die unter a) erhobene Forderung ein Widerspruch in sich, da die Entwicklung und der Vortrag „freier Formen“ dem Ziel: „Normierung und Erhaltung wesentlicher Elemente, Techniken und Prinzipien des Aikido“, nicht gerecht werden konnte. Die auf Vorschlag von Bundestrainer Gerd Wischnewski unter b) genannte Forderung nach Einführung einer Kendo-Kata macht deutlich, dass er beide Budo-Disziplinen als gleichwertige bzw. sich ergänzende Systeme ansah. Da die Erfüllung der Forderung ein längeres und intensives Studium des Kendo bedingt hätte, wurde sie nach der Durchführung einiger Kendo-Lehrgänge für Aikidoka vor ihrem Vollzug wieder aufgegeben. Ein weiterer Grund für diese Entscheidung war sicher auch die Erkenntnis, dass das (wett-)kampforientierte Kendo im Widerspruch zu wesentlichen Prinzipien des Aikido stand.

Bei der im Mai 1971 unter großen Schwierigkeiten erzwungenen Überführung des Aikido-Lehr- und -Prüfungswesens vom DDK in die Zuständigkeit der Sektion Aikido des DJB wurden den relevanten Prüfungsfächern folgende „Kata“ zugeordnet: 1. Dan: „Aiki-no-Kata – Form der Aikido-Prinzipien“; 2. Dan: „Jo-Kata – Form der Koordination“; 3. Dan: „Kata – Form der Abwehr bewaffneter Angreifer“; 4. Dan: „Omote-Kata – Form der Kombinationen“ und „Kendo-Kata – Form des Schwertweges“.

Anlässlich des im August 1972 im Herzogenhorn (Schwarzwald) durchgeführten Internationalen Aikido-Lehrganges stellte Meister André Nocquet (damals 6. Dan Aikido) erstmals die auf den fünf Stufen der Katame-Waza sowie dem Shiho-Nage und dem Kote-Gaeshi basierende „Form der Aikido-Prinzipien im Stand“ vor.

Unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse änderten die Delegierten der Technischen Kommission Aikido im DJB (TKA-DJB) im März 1973 das Fach „Aiki-no-Kata“ in den Prüfungsordnungen für Aikido-Dan-Grade wie folgt: 1. Dan: „1. Form der Aikido-Prinzipien im Stand (Ju-no-Geiko)“; 2. Dan: „2. Form der Aikido-Prinzipien am Boden (Ju-no-Geiko)“; 3. Dan: „Form der Abwehr bewaffneter Angreifer“. Die zu dieser Zeit noch nicht benötigte Prüfungsordnung für den 4. Dan Aikido wurde aufgehoben, weil die zu ihrer Ausgestaltung notwendige fachliche Kompetenz in den Organen des DJB noch nicht vorhanden war.

Die „Form der Abwehr bewaffneter Angreifer“ wurde von Rolf Brand entwickelt und als Zulassungsarbeit für seine am 24. Juni 1973 erfolgte Prüfung auf den 3. Dan Aikido angenommen. Im März 1974 beschloss die TKA-DJB, dass Meister André Nocquet, 7. Dan Aikido, die Anwärter auf den 3. Dan Aikido solange allein prüft, bis im DJB eine aus drei Aikido-Danen bestehende Prüfungskommission, die mindestens den von den Anwärtern angestrebten Grad besitzen, gebildet werden kann. Meister André Nocquet schlug in diesem Zusammenhang vor, bis zur Verbreitung der „Form der Abwehr bewaffneter Angreifer“ die „1. und 2. Form der Aikido-Prinzipien im Stand und am Boden“ zu prüfen.
Bei der im April 1977 erfolgten Gründung des Deutschen Aikido-Bundes e.V. (DAB) wurde das Regelwerk der Sektion Aikido im DJB übernommen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es in der Prüfungsordnung für Dan-Grade keine inhaltlichen Änderungen der vorhandenen „Aiki-no-Kata“.

Die vom Generalsekretär der Union Européenne d’Aikido (UEA), Rolf Brand, nach einer umfassenden Analyse der nationalen Ordnungen aller Mitgliedsverbände entwickelten Verfahrens- und Prüfungsordnungen für Aikido-Dangrade (VOD- und POD-UEA) wurden im April 1976 von den Delegierten des Kongresses und im November 1977 auch von der Technischen Kommission der UEA – sie bestand aus den jeweils drei ranghöchsten Aikido-Danen der Mitgliedsverbände – angenommen. Auf Vorschlag von Meister André Nocquet wurde auch die von Rolf Brand entwickelte „Form der Abwehr bewaffneter Angreifer“ darin aufgenommen.

Dem Fach „Kata“ waren in der POD-UEA folgende „Aiki-no-Kata“ zugeordnet: 1. Dan: „1. Form der Aikido-Prinzipien im Stand (Ju-no-Geiko)“; 2. Dan: „2. Form der Aikido-Prinzipien am Boden (Ju-no-Geiko)“; 3. Dan: „Form der Abwehr bewaffneter Angreifer (Ju-no-Geiko)“; 4. Dan: „Freie Kata, jedoch nicht aus dem Programm für Aikido-Dan-Grade der UEA“; 5. Dan: „Form der Abwehr bewaffneter Angreifer mit einer Waffe“.

Die im Sinne des Wahlspruches „Per Amicitiam ad Firmitatem“ (Durch Freundschaft zur Stärke) zur Förderung gemeinsamer Ziele geschaffenen und mehrheitlich verabschiedeten Ordnungen (VOD- und POD-UEA) wurden jedoch nicht in allen nationalen Mitgliedsverbänden umgesetzt. Im Bereich des DAB waren die VOD- und POD-UEA bis Ende 1988 verbindlich. Im Juni 1989 beschlossen die Delegierten der 7. BV des DAB daher die Rückführung der Verfahrens- und Prüfungsordnungen für Dan-Grade in die eigene Zuständigkeit. Da die „Form der Abwehr bewaffneter Angreifer“ auch Techniken enthält, die in den Ausbildungs- und Prüfungsprogrammen des DAB bis zum 3. Dan Aikido nicht vorkamen, wurde sie auf den 4. Dan Aikido verschoben. Gleichzeitig wurde für eine Übergangszeit beschlossen, bei Anwärtern auf den 3. und 5. Dan Aikido die vorhandenen „Aiki-no-Kata“ der bereits abgelegten Grade zu prüfen.

Die mit Wirkung vom 1. Januar 1990 in Kraft gesetzte POD-DAB wurde in den Fächern „Aiki-no-Kata“ wie folgt geändert: 1. Dan: „Form der Aikido-Bodentechniken (Katame-Waza) im Stand“; 2. Dan: „Form der Aikido-Bodentechniken (Katame-Waza) im Kniesitz“; 3. Dan: „Form der Aikido-Standtechniken (Nage-Waza)“; 4. Dan: „Form der Abwehr bewaffneter Angreifer“, 5. Dan: „Form der Aikido-Elemente und -Prinzipien“.
Bei Gründung der Aikido-Union Deutschland e.V. (AUD) im April 2002 wurden die in der POD-DAB vorgegebenen „praktischen Fertigkeiten“ unverändert in die „Prüfungsordnung für Aikido-Dan-Grade der AUD (POD-AUD)“ übernommen, weil ihre technische Entwicklung und formale Festlegung seit 1966 weitestgehend durch Aikido-Dane erfolgte, die sich vom DAB gelöst und die Gründung der AUD unterstützt hatten.

Von den Delegierten der 2. HV der AUD wurden die Bezeichnungen der Aiki-no-Kata im April 2003 wie folgt konkretisiert: 1. Dan: „Form der Katame-Waza und ihrer Prinzipien im Stand“; 2. Dan: „Form der Katame-Waza und ihrer Prinzipien im Kniesitz“; 3. Dan: „Form der Nage-Waza sowie der Synthese ihrer Prinzipien im Stand“; 4. Dan: „Form der Nage- und Katame-Waza zur Abwehr bewaffneter Angreifer (Form der Evolution des Aikidoka)“; 5. Dan: „Form fundamentaler Aikido-Elemente und -Prinzipien“.

Die bis dahin noch fehlende „Form der Nage-Waza sowie der Synthese ihrer Prinzipien im Stand“ wurde im Jahr 2004 von Rolf Brand entwickelt. Als Zeichen seines Dankes an alle Aikidoka, die ihn in „Zeiten schwieriger Entscheidungen“ treu auf seinem Weg begleitet haben, schenkte er diese Form der AUD. Nach Verabschiedung durch die Technische Kommission wurde sie den Delegierten der im Oktober 2005 durchgeführten 4. Hauptversammlung (HV) der AUD zur Inkraftsetzung vorgelegt und verabschiedet. Entsprechend dem Beschluss ist diese Form dem 3. Dan Aikido zugeordnet.

Bis dahin wurden sowohl im DJB als nachfolgend auch im DAB und in der AUD bei Prüfungen auf den 3. Dan Aikido im Fach „Aiki-no-Kata“ die „1. und 2. Form der Aikido-Prinzipien im Stand und am Boden“ abgerufen. Diese Maßnahme hat die Verbreitung und Vertiefung der in diesen Formen enthaltenen und im Training oft vernachlässigten Grundtechniken (Nage- und Katame-Waza) nachdrücklich gefördert.

Die Technische Kommission der AUD hatte es sich zum Ziel gesetzt, die in ihrem Prüfungsprogramm für den 5. Dan Aikido noch fehlende „Form fundamentaler Aikido-Elemente und -Prinzipien“ zu konzipieren. Dazu hatte Dr. Björn Rahlf als Hausarbeit für seine Prüfung auf den 5. Dan Aikido einen fundierten Vorschlag unterbreitet. Das Präsidium und die Technische Kommission der AUD haben auf diese Initiative ihres ranghöchsten Meisters und Bundestrainers jedoch nicht in der gebotenen Weise reagiert. Dies hat neben anderen Ereignissen, die im Widerspruch zu wesentlichen Prinzipien des Aikido standen, wohl dazu beigetragen, dass sich Dr. Björn Rahlf mit Ablauf des Jahres 2011 von der AUD getrennt hat.

Gemeinsam mit seinen Weggefährten sowie mit Unterstützung der ranghohen Meister Erhard Altenbrand (8. Dan Aikido) und Rolf Brand (8. Dan Aikido) gründete er am 29. April 2012 den Aikido-Verband Deutschland e.V: (AVD). Der AVD übernahm die Prüfungsordnung für Dan-Grade der AUD mit den zu dieser Zeit aktuellen Inhalten. Bezüglich des Prüfungsfaches „Aiki-no-Kata“ gab es folglich keine Änderungen.

Beim kritischen Studium der Ausführungen könnte man zu dem Schluss kommen, dass die im Fach „Aiki-no-Kata“ wiederholt vorgenommenen Änderungen den Zielsetzungen und der Bedeutung dieser „tragenden Säule“ entgegenstehen. Dazu stelle ich fest, dass sich in der Regel zwar die Namen, nicht aber die wesentlichen Ziele und Inhalte der Formen geändert haben. Bezogen auf die bei Namensänderung noch nicht realisierten „Aiki-no-Kata“ haben derartige Überlegungen ohnehin nur eine theoretische Bedeutung.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die im Jahre 1969 bei Dan-Prüfungen erstmals vorgesehenen „Aiki-no-Kata“ für den 1., 2. und 3. (später 4.) Dan Aikido nach „Umwegen“ bereits im Jahr 1973 konkretisiert wurden. Bis zur Einführung der dem 3. Dan Aikido zugeordneten „Form der Nage-Waza sowie der Synthese ihrer Prinzipien im Stand“ vergingen jedoch 32 Jahre. Das liegt in erster Linie wohl daran, dass die Entwicklung einer Form ein kreativer Vorgang ist, der eine entsprechende geistig-seelische und technische Reife erfordert. Außerdem gilt auch hier: „Gut Ding will Weile haben!“. Die in diesem Aufsatz aufgezeigte „Historie der Aiki-no-Kata“ ist aber auch ein Beweis dafür, dass die verantwortlichen Aikidoka und Verbandsorgane die als richtig erkannten Ziele trotz einiger Widerstände und Probleme in den vergangenen 43 Jahren beharrlich verfolgt haben.

Das mit der „Form fundamentaler Aikido-Elemente und -Prinzipien“ verfolgte Ziel, wesentliche geistige und philosophische Prinzipien des Aikido in körperlich-technischen Ausdrucksformen zu präsentieren, ist ohne Zweifel eine schwierige Aufgabe und eine besondere Herausforderung.

Es bleibt abzuwarten, wie und von welchem Verband die Geschichte der Aiki-no-Kata fortgeschrieben oder beendet wird.

© Rolf Brand, 8. Dan Aikido
Alle Rechte, auch das der Übersetzung, ausdrücklich vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verfassers gestattet.

O Sensei Ueshibas Botschaft

Die Botschaft des O Sensei Morihei Ueshiba
Von André Nocquet, 8. Dan Aikido
(Bearbeitet durch Rolf Brand, 8. Dan Aikido)

Portrait und Text

Es ist an einem sonnigen Dezembernachmittag des Jahres 1957, als ich Japan verlasse. Zahlreiche Freunde begleiteten mich zum Hafen von Yokohama, wo ich mich mit dem Ziele San-Francisco einschiffte, das über Hawai erreicht werden sollte.
Die Stunde der Trennung von lieb gewonnenen Menschen lastete schwer auf meinem Herzen, woran auch ihre aufmunternden Worte nichts zu ändern vermochten.
Im Augenblick des Aufbruches zog mich mein verehrter Lehrer, O Sensei Morihei Ueshiba, plötzlich zur Seite und sagte ernst:
„Es ist ein großes Geschenk, wenn man die Heimat bald wieder sieht. Übermitteln Sie nach Ihrer Rückkehr allen Menschen meine Botschaft von Frieden und Glück.
Ich lehre einen Weg der Gewaltlosigkeit. Im Aikido gibt es keinen Gegensatz körperlicher Kräfte, von denen die stärkere und aggressivere wie selbstverständlich über die schwächere und friedliebende triumphiert; wir finden vielmehr eine sich vertiefende Verbindung gegensätzlicher Geisteshaltungen, von denen die humanere überlegen ist.
Dieses Prinzip der Selbstverteidigung zwischen Einzelwesen lässt sich auch auf Völker übertragen, die in gefährlicher Opposition zueinander stehen.
In unserer Welt bekämpfen sich auch gegenwärtig große Mächte in allen Bereichen der menschlichen Aktivitäten. Als Produkt scharfsinniger Forschungen auf technischem Gebiet werden täglich neue mörderische Waffen geschaffen, die Unglück und Verzweiflung auf jeden Teil der Erdkugel tragen können. Beträchtliche Mittel werden verschlungen, um den Völkern die erstrebte Sicherheit zu gewähren.
Vergessen Sie nicht die in einem Theaterstück Ihres Landes aufgezeigte Moral. In dem Streben nach Macht über andere Menschen schuf der Mediziner ein Monster. Zu seinem und vieler Menschen Unglück gelang es ihm nicht, das Produkt seines Geistes zu meistern. Er hatte nicht an die unvermeidlichen Folgen seines aus niederen Motiven entstandenen Werkes gedacht. So mussten sich Schrecken und Tod zwangsläufig gegen ihn selbst richten.
Hier zwingt sich ein Vergleich auf. Wie viele schöpferische Kräfte werden von den Menschen aufgewendet, um die Grenzen des Fassbaren übersteigende Massenvernichtungsmittel zu schaffen? Wie hilflos sind diese Menschen gleichzeitig in ihrem Bemühen, deren Auswirkungen zu kontrollieren!
Was würde in einem Weltkonflikt geschehen? Jeder Mensch ist bedroht und es kann weder Sieger noch Besiegte geben! Das eigentliche Problem der Auseinandersetzung wird nicht darin bestehen, wie man seinen Gegner unterwerfen kann; es gilt vielmehr, Möglichkeiten für das eigene Überleben zu finden! Jeder Mensch, der diese Feststellung in ihrer ganzen Tragweite erkennt, wird auf die bedingungslose Vernichtung seines Gegners verzichten und vielmehr versuchen, ihn so zu lenken, dass er seine aggressive Gesinnung als Folge einer höherer Einsicht aufgibt.

Wie Sie wissen, ist der Mensch in zwei Bereichen verwurzelt: zunächst im irdischen, weil er ein Teil der Natur ist und ihren ewigen Gesetzen unterliegt. Von seinem Schöpfer im Himmel wurden ihm aber auch Seele und Geist geschenkt. Gerade diese Eigenschaften unterscheiden ihn vom Tier und sie allein können allen Menschen den Sieg des Friedens bringen, der als Zustand höchster Glückseligkeit bisher immer vergeblich gesucht wurde.“
Mein alter Lehrer schweigt! In diesem Augenblick begreife ich, dass seine Botschaft der Wahrheit, die er mir anvertrauen wollte, nicht durch Worte ausgedrückt werden kann. In den sich anschließenden Minuten verschmolzen unsere Seelen, und ich erahnte die Bedeutung einer mir in jahrelanger körperlicher Übung vermittelten Idee, deren klarer Sinn vielen Menschen bisher verborgen geblieben war.
Ich umarmte meinen Lehrer, wobei alle Anwesenden „Banzai“ riefen, was „Viel Glück“ bedeutet. Aber der Meister kannte das Geheimnis der Unbeständigkeit der Menschen und ihre Sehnsucht nach dem Glück, das sie doch selbst herbeiführen könnten. So flüsterte er mir zu: „Shikata Ganai“ – „keine Wahl“, da kann man nichts machen.“
Drei Jahre hatte ich das unschätzbare Vorrecht, unter der persönlichen Anleitung des Aikido-Begründers, O Sensei Morihei Ueshiba, zu leben und konnte während dieser Zeit fern aller störenden Einflüsse meine Studien betreiben. Es ist für mich seit dieser Zeit eine freudig übernommene Pflicht und ein wohltuender innerer Zwang, die an der Quelle empfangene Lehre des Aikido zu verbreiten.
Der Geist dieses Budo ist friedlich und hat die Vergangenheit sowie das Leben der Japaner sehr beeinflusst. Zahlreiche Interpreten haben versucht, das Aikido mit anderen Budo-Disziplinen zu vergleichen, etwa mit dem Judo, das inzwischen zu einer in der ganzen Welt verbreiteten Sportart wurde. Sie vergessen dabei oft, dass Aikido ein über die körperliche Übung sichtbar gemachter moralischer Weg ist, der das geistige Leben in Japan seit mehr als tausend Jahren positiv prägt. Es ist jene unbestimmbare Kraft, die viele Besucher bisher vergeblich zu durchdringen versuchten; eine Stimme des Unterbewusstseins, die auch den überlieferten und bewahrten Geist des modernen Japan ausmacht.
Wenn wir als Schüler des Aikido den wertvollen Weg achten und lieben, so sind wir auf der Suche nach diesem wertvollen Geheimnis.
Da es immer Menschen gibt, die mit allen Fasern ihres Herzens nach der Wahrheit streben, wird sich auch das oft noch verkannte Aikido zum Nutzen der Menschheit verbreiten.
Wie in jedem Land wurden auch in Japan früher Künste entwickelt, die in erster Linie dem Kampfe sowie zur Verteidigung gegen bewaffnete und unbewaffnete Angreifer dienten. Die technischen Unterschiede bestanden darin, dass man sich seinem Gegner entgegen warf, die Verrenkung seiner Gelenke herbeiführte, Schläge und Stöße auf lebenswichtige Körperstellen richtete oder die eigene Waffe optimal zur Anwendung brachte.
Die Pflege dieser Künste war aus Gründen der Selbsterhaltung zunächst sehr wichtig. Bedingt durch äußere Einflüsse, neue Gesetze und veränderte moralische Auffassungen war im 18. Jahrhundert ihr langsamer Verfall festzustellen. Auf der Suche nach neuen Lebensinhalten und -formen kam man zu der Auffassung, dass die bis dahin praktizierten Prinzipien des Zweikampfes menschenunwürdig wären, ohne allerdings seine vielfältigen und oft verschleierten Erscheinungsformen zu negieren.
Zum Glück verstand es O Sensei Jigoro Kano, ein neues System zu schaffen, das physisches und geistiges Training harmonisch miteinander verbindet. Er nannte es Judo (sanfter Weg), das als Sport mit tiefen erzieherischen Inhalten und körperbildenden Werten heute in der ganzen Welt bekannt ist.
Parallel zu den Anstrengungen von O Sensei Jigoro Kano setzten andere Meister ihre Übungen fort. Sie suchten und fanden neue Systeme.
In jeder an den Regeln des sportlichen Wettkampfes orientierten Begegnung muß man jedoch auf die Anwendung gefährlicher Angriffs- und Verteidigungstechniken verzichten oder darf sich nur auf ihre Andeutung beschränken. Aus diesem Grunde wurden die wesentlichen Aspekte und effektiven Techniken des Jiu-Jitsu sowie des Aiki-Jitsu schnell verworfen und bald vergessen.
Der geniale Budo-Meister Morihei Ueshiba erkannte, dass jede Verteidigungstechnik wertneutral und daher nicht von sich aus gefährlich oder schlecht ist, solange der Ausführende die Gesetze der Nächstenliebe konsequent achtet und ständig zu realisieren sucht. Er studierte die Techniken und Prinzipien des Jiu-Jitsu sowie des Aiki-Jitsu und schuf ein bemerkenswertes System, das er Aiki-Budo und später Aikido nannte.
Aikido-groß

AI
Liebe, Harmonie

 

KI
universale
geistige Kraft

 

Do
Weg, Methode, Prinzip
Aikido ist im körperlichen Bereich eine gelungene Synthese verschiedener martialischer Künste, wobei vorwiegend Techniken praktiziert werden, die im Wettkampfsport verboten sind. Dies ist nur deswegen ohne Schaden für die Ausübenden möglich, weil dem Aikido die strikte Idee vom Frieden, der mit Macht edler menschlicher Gefühle hergestellt wird, zugrunde liegt.
Es ist sehr schwierig, die gesamte Lehre des Aikido mit Worten zu beschreiben. „AI“ bedeutet“ in Harmonie vereinen“, „KI“ ist die „geistig-seelische aber auch universale Kraft“ und „DO“ der „Weg“.
Schon in der Wortwahl ist zum Ausdruck gebracht, dass es darauf ankommt, seinen Geist in harmonische Übereinstimmung mit dem Geist anderer Menschen und in Einklang mit den göttlichen Gesetzen zu bringen. Dies gilt auch im Bereich der Wirklichkeit, denn die hier herrschenden physikalischen Gesetze sind ein Ausdruck des Schöpferwillens.
Alle Techniken des Aikido sind nur körperliche Übungs- und Ausdrucksformen dieses übergeordneten geistigen Prinzips. Wer die tiefgründige Lehre des Aikido verstehen will, muss die Gedanken des Begründers, O Sensei Morihei Ueshiba, nachvollziehen. Er ordnete der körperlichen Konstitution oder der physischen Kraft nur eine geringe Bedeutung zu und vertrat mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit die Auffassung, dass der Geist die Materie beherrschen kann. Diesen Weg kann der Aikidoka jedoch nicht allein, sondern nur in harmonischer Verbindung mit dem Willen seines Schöpfers und gemeinsam mit anderen Menschen gehen.
In unserer vorwiegend materialistisch determinierten Zeit werde ich gemäß der Botschaft meines verehrten Meisters immer verkünden, dass Aikido ein neuer Weg des Friedens ist.
Wenn es möglich ist, die aufgezeigte höhere Einsicht bei Individuen zu wecken, so wird man zugeben müssen, dass sie auch zwischen den Nationen der Erde bestehen kann. Wäre es folglich nicht sinnvoll, künftige Führungskräfte zu formen, indem man eine wertvolle geistige Lehre eng mit der körperlichen Ausbildung verbindet?
Jede Nation, die so verfährt, könnte über ein Potential an würdigen Menschen verfügen, das höher zu bewerten ist, als die größte zerstörerische Kraft aller Waffen. Diese Führungskräfte wären ständig bemüht, ihnen anvertraute oder erworbene Macht zum Wohle und zum Fortschritt der Menschheit einzusetzen.
Fragt ein Außenstehender nach dem Wesen des Aikido, so kann man ihm antworten, dass es die Lehre von der Harmonie aller Gedanken, Worte und Handlungen ist.
Durch körperliche Übungen erlaubt Aikido ein Studium physischer und geistiger Zusammenhänge. Es bietet den aufmerksamen Schülern ein unbegrenztes Betätigungsfeld mit bemerkenswerten Möglichkeiten. Ihm wird anschaulich und eindringlich bewiesen, dass sein Leben von unveränderlichen Gesetzen abhängig ist, die jedes Zusammenwirken von Geist und Körper ebenso regeln, wie sein Verhältnis zu anderen Menschen oder zur Umwelt.
Nur ein ausgeglichener Mensch erkennt diesen zarten Mechanismus und kann ihn beeinflussen. Er erwirbt, was viele Menschen vergeblich suchen: eine grenzenlose innere Freiheit als Ausdruck der in sich ruhenden starken Persönlichkeit, die Möglichkeit zur Überwindung der Hindernisse des Lebens, den erfolgreichen Einsatz aller geistigen Kräfte unter Ausschaltung störender Emotionen und eine jeden unnötigen Aufwand vermeidende heitere Gelassenheit.

Ueshiba NocquetDie fundamentalen Techniken des Aikido basieren auf dem Prinzip des Eintretens (Irimi) und des Ausweichens (Tenkan). Letzteres will jedoch nicht im Sinne von „Nachgeben“ oder „kein Interesse zeigen“ verstanden sein. Der Ausführende vermeidet lediglich im „Augenblick“ das spontane Engagement, bewahrt sich so die Freiheit der Entscheidung oder des Handelns und kann seine eigenen Möglichkeiten folglich jederzeit optimal zur Geltung bringen, wenn dies zweckmäßig oder notwendig ist.

Ein weiteres Grundmerkmal, das Aikido völlig von ähnlichen Künsten unterscheidet, liegt darin, dass es die Entfaltung des Angreifers zulässt, was bei oberflächlicher Betrachtung zunächst paradox erscheint.

Der Verteidiger wartet im Zustand geistig-seelischen und körperlichen Gleichgewichtes den Angriff ab. Nur diese Methode der „beobachtenden Passivität“ erlaubt es, die Absicht des Angreifers, Stärke und Richtung der wirkenden Kraft, sowie schwache Punkte zu erkennen. Durch Ausweichen wird dem Angreifer das Ziel seiner Bemühungen genommen, wonach die entfaltete Kraft entweder wirkungslos verpufft oder auf der Linie des Verteidigers verstärkt gegen den Initiator gerichtet wird, so dass dieser als Folge einer schmerzhaften Belehrung häufig vor Vollendung des Angriffes seine niedere Absicht aufgeben muss.
Die Art der Verteidigung wird so auf natürliche Weise durch die Art und Stärke des Angriffes bestimmt. Der Angreifer wird ständig so gelenkt, dass er die Nutzlosigkeit seines Bemühens einsieht und die feindliche Gesinnung freiwillig aufgibt.
Alle Techniken des Aikido beeindrucken den Außenstehenden durch ihre Schnelligkeit und Präzision, was ein ernsthaftes Training von vielen Jahren voraussetzt.
Am Beginn der Studien steht ein intensives und ausdauerndes Forschen nach dem eigenen Leistungsvermögen, wobei die Bedeutung des statischen und dynamischen Gleichgewichtes einen hervorragenden Platz einnimmt. Es gilt, eine perfekte innere (geistige) und äußere (körperliche) Stabilität zu erwerben, die sowohl im allgemeinen Verhalten als auch in realen Verteidigungssituationen von erfolgsbestimmender Bedeutung ist.
Die erzieherischen Grundübungen dulden keine Mittelmäßigkeit und sind mit großer Intensität ständig zu wiederholen, da nur auf diesem Wege die verworrenen Gefühle konzentriert und die häufig unnatürlichen Bewegungen kultiviert werden können.
Der aufgezeigte Weg führt zwangsläufig zu Fortschritten in den körperlichen und technischen Bereichen. Die ständige Überwindung der eigenen Unzulänglichkeiten fördert aber auch Selbstvertrauen, Konzentrationsfähigkeit, innere Ruhe und geistige Überlegenheit.
Mit zunehmendem Training werden die visuellen Empfindungen sowie die Möglichkeiten einer instinktiven Orientierung beträchtlich verbessert und sicherer Besitz des Unterbewusstseins. Erst von diesem Zeitpunkt an kann der Aikidoka durch Anmut, Eleganz, Geschicklichkeit und Geschmeidigkeit alle Nachteile ausgleichen, die von der brutalen Kraft eines starken und bösartigen Angreifers ausgehen.
Physikalisch gesehen können die Bewegungen des Aikido mit dem Schwingen eines Pendels verglichen werden. Der Angreifer wird hierbei unwiderstehlich in eine vom Zentrum des Verteidigers ausgehende Kreisbewegung aufgenommen und damit in den Zustand des permanent labilen Gleichgewichts gebracht. Hier gehorcht der den physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterworfene Körper dem aggressiven Geist nicht mehr. Dem Angreifer wurden somit alle Möglichkeiten genommen, sich seiner natürlichen körperlichen Mittel zu bedienen.
Der Verteidiger befindet sich bei allen Aktionen außerhalb oder im Zentrum der wirkenden Kräfte und bleibt gleichsam unberührt. Er allein ist in der Lage, den Angreifer aus seinem selbst herbeigeführten Zustand körperlicher und geistiger Hilflosigkeit zu befreien, wobei die Grundsätze der Nächstenliebe beachtet werden.
Alle Techniken des Aikido sind daher auf die Konstitution der Menschen abgestimmt und beanspruchen die Gelenke entsprechend ihrer natürlichen Flexibilität bis zu einem Punkt, an dem die zwingende Schmerzschwelle ohne bleibende Schäden erreicht ist.
Aikido ist aufgrund aller Inhalte ein System der Selbstverteidigung für Menschen des Ausgleichs, denen es widerstrebt, Böswilligkeit mit Hass, Feindschaft mit Gewalt und Kraft mit Heftigkeit zu erwidern. Sie werden erkennen, dass der Geist die körperliche Natur beherrschen kann und in ihrem Leben eine Summe unschätzbarer Wohltaten empfangen.
Die Wirksamkeit der Technik des Aikido-Begründers, O Sensei Morihei Ueshiba, war zwingend und wohltuend zugleich. Alle Bewegungen verband er mit dem Kiai, der seinem Wesen entsprang und die Herzen der Menschen in zarte, harmonische Schwingungen versetzte.
In diesem Stadium des Aikido gab es weder Angriff noch Verteidigung. Man nahm an einer Aufeinanderfolge von unerklärlichen Erscheinungen teil, aber in Wahrheit gab es nur das Wirken des überlegenen Geistes einer großen Persönlichkeit.
Die tönende und schwingende Natur war für ihn eine sichtbare Geste der Schöpfung und ein immer neues Erlebnis. In der harmonischen Übereinstimmung mit ihr schuf er sein System der vollkommenen Verbindung von Gedanken, Worten und Handlungen – Aikido. Sein Leben war erfüllt von ständiger Suche nach Wahrheit und höchster Geistigkeit. O Sensei Morihei Ueshiba war ein genialer Künstler, dessen Lebenswerk in den technischen Formen die Schönheit und Reinheit seiner Bemühungen widerspiegelt.
Noch im Alter von 86 Jahren fürchtete er weder Entbehrung noch Anstrengungen, neidische Feindlichkeit oder ungerechte Kritiken. Er opferte seine Kräfte nur dem Großen und Schönen, war allen edlen Gefühlen zugänglich und begeisterte mit der Kraft seiner Persönlichkeit.
Wer im Aikido lediglich ein bemerkenswertes System der Selbstverteidigung sieht, wird der Wahrheit nicht gerecht; es handelt sich vielmehr um einen Weg der menschlichen Vervollkommnung!
Im Verlaufe meines Aufenthaltes bei O Sensei Morihei Ueshiba wurde ich davon überzeugt, dass der Geist sich vom Körper lösen kann, um seine erhabene Pracht ringsum zu werfen. Geblendet durch das Licht der Wahrheit und geschlagen von der erkannten Hässlichkeit ihrer eigenen Absichten fanden sich alle Feinde entmutigt.
So praktiziert und vorgelebt ist Aikido eine unschätzbare Lebenshilfe für den Einzelnen und ein wertvolles Prinzip für jede Gemeinschaft. Es lebt auch nach dem Tode des Aikido-Begründers ungetrübt in den Herzen seiner aufrichtigen Schüler weiter.
„Dringt nicht der belebende Sonnenstrahl“, so sagt ein Sprichwort, „von allein in das Zimmer, wenn die Tür geöffnet wird?“ Also sollten wir auch unsere Herzen öffnen, um die wertvolle Botschaft des O Sensei Morihei Ueshiba zu empfangen und durch Arbeit an uns selbst zu verinnerlichen, damit sie sich auf alle Lebensbereiche überträgt und ihre Wirkung entfaltet – zum Wohle vieler Menschen.

© Rolf Brand, 8. Dan Aikido
Alle Rechte, auch das der Übersetzung, ausdrücklich vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verfassers gestattet.

Aikido ist ein Spiegel

In vielen Kulturkreisen gilt der Spiegel als Symbol der (Selbst-) Erkenntnis und des Bewusstseins sowie der Schöpfung, da diese universale bzw. göttliche Gesetzmäßigkeiten reflektiert. Weil ein Spiegel „nicht lügt“ und jede Medaille bekanntlich zwei Seiten hat, ist er aber nicht nur ein Synonym für das reine menschliche Herz sowie die damit im Zusammenhang stehende Wahrheit und Klarheit, sondern auch der Selbstgefälligkeit sowie der damit oft verbundenen Rücksichtslosigkeit und Verschlagenheit.

Wegen seiner unterschiedlichen Eigenschaften – aktive Reflexion bzw. passive Abbildung – kann der Spiegel sowohl ein Sonnen-Symbol (Ausdruck des Prinzips „Yang“) als auch ein Mond-Symbol (Ausdruck des Prinzips „Yin“) sein. Folglich verkörpert der Spiegel im erweiterten Sinne das über dem ausgleichenden Gegensatzpaar von „Yang“ und „Yin“ stehende „höchste Prinzip“, das sich jeder rationalen Beschreibung entzieht.

Weitere Beziehungen zwischen dem Spiegel und den Menschen bzw. ihren Eigenschaften werden in vielen Märchen, Sprichwörtern und Redensarten tiefsinnig und belehrend beschrieben. So wird beispielsweise festgestellt, dass „die Augen des Menschen ein Spiegel seiner Seele sind“.

Beim ernsthaften Studium des Aikido streben wir „ein reines Herz“ an und bemühen uns um Wahrheit und Klarheit in Gedanken, Worten und Taten. Da Aikido bekanntlich nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen gelernt und gelehrt werden kann, rufen wir durch die eigenen Aktivitäten bei unseren Partnern positive und negative Reaktionen hervor, die in unterschiedlicher Weise und Intensität „reflektiert“ werden.

Im Interesse unserer eigenen Entwicklung sollten wir gern und freimütig in den Spiegel schauen und bemüht sein, die Botschaften zu entschlüsseln, die uns – oft wortlos oder wohlwollend verschleiert – von unseren Mitmenschen übermittelt werden.

Aikido ist in besonderer Weise geeignet, den ernsthaften und ausdauernden Wegschüler von den Zwängen des „Ego“ zu befreien. Dadurch wird ihm die Möglichkeit zur vollen Nutzung seiner Möglichkeiten sowie zur selbstbestimmten, furchtlosen und erfolgreichen Gestaltung seines Lebens gegeben.

Der wahre Meister des Aikido wird es insbesondere vermeiden, eigene Probleme auf andere Menschen zu transformieren oder deren Verdienste zu schmälern, indem er sie wissentlich in Abrede stellt oder schamlos für seine Zwecke missbraucht.

Wenn es stimmt, dass Aikido im Sinne meiner Ausführungen ein Spiegel ist, vollzieht sich die Entwicklung der Wegschüler in den folgenden drei Stufen:

1. Bereitschaft zum Einblick!
2. Mut zur Selbsterkenntnis!
3. Freiheit und Kraft zum Wandel!

Der Erfolg ist jedoch keine Funktion des Aikido-Grades, sondern der Intensität, Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit der Bemühungen bei der Suche nach Wahrheit und Klarheit.

Wir sollten alle hoffen und wünschen, dass die Lehrer und Weggefährten unser eigenes Verhalten immer klar und deutlich reflektieren, damit die Selbsterkenntnis und der darauf basierende Wandel in Übereinstimmung mit den Prinzipien des harmonischen Weges möglich sind – Stufe um Stufe.
© Rolf Brand, 8. Dan Aikido
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