Es gibt nichts, woran
man besser erkennen kann,
ob man ganze Liebe habe,
als Vertrauen!
Meister Eckhart (1260-1327)
Fragt man Aikidoka nach dem Sinn der Meister-Schüler-Beziehung, so antworten sie oft mit Feststellungen zum „Pflichtenkatalog des Meisters“ (Wer ist wessen Diener?) sowie zu den „kausalen Abhängigkeiten“ (Begleitet der Meister den Schüler oder folgt der Schüler dem Meister?). Dadurch werden Vorstellungen an einen zeitlich befristeten Ausbildungsvertrag mit klar abgegrenzten Aufgaben- und Verantwortungsbereichen geweckt.
Zur Vermeidung dieser oder anderer Missverständnisse möchte ich meine Auffassung vom Wesen des Aikido und der sich daraus manchmal entwickelnden Meister-Schüler-Beziehung darlegen:
Basis jeder echten Meister-Schüler-Beziehung ist die (Nächsten-)Liebe. Sie offenbart sich durch ein ständiges, wechselseitiges und sich überlagerndes Geben und Empfangen. Die Pole „Meister“ und „Schüler“ verschmelzen so auf einer höheren Ebene zur harmonischen und wertschaffenden Einheit.
Die (Nächsten-)Liebe befähigt den Menschen zur Hingabe, das heißt, zur Einschränkung bzw. Unterordnung des „Ich“. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die kritische Selbstreflexion, die eine förderliche innere Wandlung erst initiiert und ermöglicht. Vereinigen sich die „Pole“ auch im Bewusstsein, wird die Harmonie als zeit- und raumunabhängiges Glücksgefühl erfahren, das meditative Wirkungen hat und neue Dimensionen des Seins sowie der inneren und äußeren Freiheit eröffnet.
Die Techniken des Aikido sind unter anderem körperliche (materialisierte) Übungs-Formen zur Verinnerlichung dieser Prinzipien bzw. Ausdruck des wesentlichen Ziels, das – auch in anderen Zusammenhängen – vereinfacht als „Aufhebung der Gegensätze“ oder „Ergänzung des Partners“ beschrieben wird.
Eine Meister-Schüler-Beziehung kann niemals entstehen, wenn sich ein „Pol“ überhaupt nicht oder nur unter Vorbehalten einbringen will, weil er meint, dass dies zur Selbstaufgabe oder zur Einschränkung seiner (Entscheidungs-)Freiheit führt.
Die Betroffenen haben dann jedoch eine wesentliche Chance des „harmonischen Weges“ vergeben und ihre weiteren gemeinsamen Aktivitäten reduzieren sich zwangsläufig auf den körperlichen Vollzug von Techniken der Selbstverteidigung.
Die dann natürlich noch mögliche Zweckbindung beschränkt sich meist auf die Verfolgung persönlicher Interessen bzw. solcher Ziele, die für alle Beteiligten von materiellem Vorteil sind.
Begibt man sich bewusst oder unbewusst auf diese Ebene, lassen sich die damit einhergehenden Zweifel und Konflikte auch nicht durch eine vertragliche Abgrenzung der Interessen, Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche des Meisters oder Schülers ausräumen.
Auch Meister und Schüler, die nach längerem Studium des Aikido plötzlich ihr „Ich“ wieder entdecken und übersteigern, können die bis dahin vielleicht freudvoll praktizierte Einheit plötzlich als unerträglichen Zwang empfinden. Meist verlassen sie dann den gemeinsamen Weg und signalisieren ihren aufmerksamen Weggefährten die „neue Freiheit“ unbewusst durch äußerliche Symbole der Aus- bzw. Abgrenzung (Verhalten, Kleidung, Formen) oder bewusst durch die negative Beurteilung der bisher anerkannten Umstände (Personen, Organisationen, Ordnungen, Techniken).
Sehr bedauerlich wird es allerdings, wenn derartige Entwicklungen dem Aikido oder dem Gemeinwohl schaden bzw. gegen den Willen der Mehrheit der Ausübenden mit kämpferischen oder – wenn sie von mangelnder Selbstsicherheit oder Angst begleitet sind – subversiven Mitteln durchgesetzt werden sollen.
Die Initiatoren verlassen damit nicht nur den „harmonischen Weg“, sondern haben die wertvollen Ziele des Aikido ihren egoistischen Interessen untergeordnet und damit die Meisterschaft – soweit sie überhaupt bestand – verloren.
Eine wertvolle Meister-Schüler-Beziehung darf auch nicht deswegen grad- bzw. zeitabhängig beendet werden, weil der Schüler annimmt, dass er sich fortan aus eigener Kraft entwickeln kann. Trifft der Schüler diese Entscheidung aus eigenem Antrieb bzw. nach rationalen Überlegungen, wird meist „Selbständigkeit“ mit „Selbstgefälligkeit“ verwechselt. Der Entschluss macht deutlich, dass der Betroffene sich selbst zum „Maß der Dinge“ erhoben hat und keine übergeordnete – kontrollierende – Autorität mehr anerkennt bzw. duldet.
Aus den vorstehenden Feststellungen leiten sich natürlich auch für den Meister besondere Verpflichtungen ab, denn die Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit seiner Bemühungen beweist sich erst in Spannungs- und Konfliktsituationen. Sie treten in jeder menschlichen Beziehung auf und können sehr förderlich sein, wenn die dabei freiwerdende geistige Energie nach den Prinzipien des AIKIDO kanalisiert und verstärkt sowie zur Fortentwicklung der Beziehung umgelenkt wird.
Ich bitte alle Meister und Schüler um die aktive Pflege und Vertiefung ihrer Beziehung, damit das Aikido seine prägenden und wertschaffenden Kräfte entfalten kann – zum Wohle vieler Menschen und der von ihnen getragenen Gemeinschaften.
© Rolf Brand, 8. Dan Aikido
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